Früher, zu Zeiten der „Fasse Dich kurz“-Aufkleber, hätte ich darauf vertraut, dass sich die Dame in der Telefonzelle auch tatsächlich kurz gefasst hätte. Leider gibt es diese Sorte Telefonzellen nicht mehr, und die Dame stand da auch nur, um sich neue gebrauchte Bücher auszusuchen (dafür stehen die Telefonzellen nämlich bei uns!), also überlegte ich, ob ich nicht meine sozialen Fähigkeiten etwas trainieren solle. Und entschied mich für „Ja, gute Idee“.
„Möchten Sie noch einen netten Krimi?“, fragte ich, nachdem ich die Telefonzellentür geöffnet hatte, und deutete auf ein Exemplar mit fröhlich-blutverschmiertem Handabdruck auf dem Cover, das sich in meiner Tauschkiste befand. Sie bedankte sich höflich, lehnte aber ab, da sie sonst nicht schlafen könne. Woraufhin ich eifrig einen „heiteren Familienroman“ und eine „wunderbare Liebesgeschichte“ aus meiner Sammlung suchte und sie ihr in die Hand drückte. Sie wagte nicht abzulehnen, während ich nicht wagte, mir ihre Familiengeschichte nicht anzuhören. Aber da hätte ich auch was verpasst, das war schon spannend. Nach über einer Stunde intensiven Gesprächs verabschiedeten wir uns – sie mit den Büchern und ich mit einer Einladung, doch gerne auf ihr Grundstück zu kommen und da soviel Bärlauch zu pflücken, wie ich wollte – und mit ihrer Telefonnummer. Und drei neuen Büchern, die ich noch nicht kannte
Als nächstes fuhr ich zur Tankstelle, um den Saharastaub vom Auto zu waschen. Die Waschstraße befindet sich, nicht einsehbar, hinter selbiger Tankstelle, weswegen mir auch entging, dass das halbe Dorf auf dieselbe lustige Idee gekommen war. Wie gut, dass ich drei neue Bücher im Auto hatte.
Mit nunmehr sauberem Auto startete ich noch einen Vorstoß auf die Gemüseabteilung des örtlichen Supermarktes. und stellte dort fest, dass gerade Schulschluss war. Sämtliche Kinder der Grund- und weiterführenden Schule befanden sich in eben diesem Supermarkt, um ihr Taschengeld auszugeben oder, alternativ, drei Bröchen zu kaufen.
Ich habe für „Einmal kurz einkaufen“ über zwei Stunden gebraucht. Dafür weiß ich jetzt aber auch, dass man sich im örtlichen Friedhof auf jede Art bestatten lassen kann, ob in einer Wand in der Urne oder unter einem Baum. Ich weiß, wann und wo es „Frauenfrühstück“ gibt, dass es auf dem Weg zur Burg hoch einen Rätselpfad für Kinder gibt (aber ich muss die Rätsel nicht lösen. Ich kenne auch schon das Lösungswort). Und ich weiß, dass der Gatte jener Frau ein Idiot ist. Er ist sechzehn Jahre älter als sie und obwohl es ihr gesundhheitlich nicht gut geht, ist sie fest entschlossen, ihn zu überleben. Nur um ihn zu ärgern.
Ich musste so an meine Oma denken. Die kam aus derselben Ecke, wenn sie auch 19 Jahre älter war. „Sie schaffen das“, sagte ich. „Auch wenn Sie nicht nicht mehr dran erinnern können, dort geboren zu sein, so haben Sie offensichtlich doch einen echt pommerschen Dickkopf. Meine Oma wäre stolz auf sie.“
Nächste Woche ist sie die Dame in Köln. Aber übernächste Woche bringe ich ihr mal ein paar Blumen vorbei!