Bergleben

Als Johanna Spyri ihren Mega-Bestseller „Heidi“ schrieb, hat sie, wie ich inzwischen herausgefunden habe, kein bisschen recherchiert. Sie beschrieb den Alm-Öhi als alten, granteligen Mann, der von der Welt im Allgemeinen und von den Einwohnern des „Dörfli“ im Tal im Besonderen nicht das Geringste wissen wollte. Nun – das ist nicht wahr. Der Kerl ist auf den Berg gezogen, weil er einfach unglaublich neugierig war. Ich weiß das, weil ich auf dem Berg wohne, und statt der erwarteten Stille bin ich bestens informiert über alles, was im Tal vor sich geht. Wenn der Hund Durchfall hat, das Kind zum fünften Mal sein Spielzeug auf die Erde pfeffert und Hans-Erwin fremdgeht – ich weiß Bescheid. Zumindest akustisch. Optisch bekomme ich leider nicht alles mit. Ich weiß nicht, welcher Hund zuviele Haselnüsse (mit Schale) gefressen hat, ich grüße Hans-Erwin freundlich, ohne zu ahnen, welchen Kummer er seiner Frau macht, und was das entzückende Kleinkind mit dem dringenden Wunsch, herauszufinden, ob die Erdanziehungskraft jedes Mal funktioniert, angeht – ich kenne nicht mal seine Haarfarbe. Dafür weiß ich sonst so einiges über ihn. Ich weiß, dass das Kindergeld für ihn seit zwei Wochen endlich regelmäßig gezahlt wird, dass im Flur seiner Eltern eine Garderobe steht, gekauft am 22. August über Ebay Kleinanzeigen für 24 Euro, und sollte er jemals bei mir zu Besuch sei, werde ich ihm keine Karotten anbieten. Die mag er nämlich nicht.

Vermutlich ist es ihm peinlich, was ich alles über ihn weiß, aber er kommt einfach nicht dagegen an. Mama ist nämlich echt laut. So schrill-laut. Also so, dass man sie einfach nicht überhören kann, selbst wenn man sich furchtbare Mühe gibt. Obwohl es einigen Menschen zu gelingen scheint. Ich glaube, die Kassierin im Supermarkt unten im „Dörfli“ hatte den Dreh raus, denn sie sagte zu mir: „Ich kann sie leider akustisch nicht hören„. Ich liebe diesen Satz. Ich will auch akustisch nichts hören können. Bis zum nächsten Jahr muss ich das hinbekommen. Bis dahin wird der kleine Karottenhasser im Tal vermutlich die ersten Worte sprechen und an lauen Sommerabenden auf Opas Terrasse seine Meinung über Gemüse mit ebenso lauter Stimme kundtun, wie Mama über die Ihre über ihre neue 24-Euro-Garderobe. Das sind die Gene, dagegen kommt man nicht an.

Es sei denn, er kommt nach Oma. Ich habe Monate gebraucht, um herauszufinden, dass es eine Oma zu dem Kind gibt. Sie sagt nie etwas. Ich stelle mir vor, dass sie im Gegensatz zu Mann und Tochter friedlich in ihrem Schaukelstuhl sitzt, strickt, und ab und zu „Jaja“ sagt. Dass sie Ohrstöpsel benutzt (und das schon, seit das Töchterlein als Baby das erste Mal seine Karotten verweigerte), kann man durch die ohrenbedeckende Frisur nicht sehen.

Egal ob ich mir das nur einbilde oder nicht, die Frau hat recht. Ich werde mir bis zur Freiluftsaison im nächsten Frühling Ohrstöpsel zulegen und dann die Bergeinsamkeit genießen. Wenn jemand was will – kommt einfach hoch auf die Dachterrasse. Klingeln könnt ihr vergessen, ich werde es nicht hören können. Ach ja, und wenn ihr auf dem Weg durch’s Tal an einer Frau vorbei kommt, die mit fürchterlich schriller Stimme erzählt, dass sie gerade im Bett Probleme mit ihrem Hans-Erwin hat, und das, während ein Kind neben ihr mit Karotten wirft – guckt doch mal bitte hin, welche Haarfarbe das Kind hat.

Würde ich ja schon gerne wissen.

7 Gedanken zu “Bergleben

  1. Richtig interessant wird es dann beim „Landfrauenkreis“ in der Kirche. Wenn der Pfarrer seine Andacht abgeliefert hat und nach zwei Tassen Kaffee und zwei Stückchen Kuchen (nein, drei, sie nehmen doch noch eins, Herr Pfarrer, odr?) wieder in seinem Pfarrhaus verschwindet, dann geht es sorichtig los. Da kriegt Hans-Erwin dann in Abwesenheit sein Fett weg, da wird über das Kind ge ts-ts-t, über den Hund und über den Alten vom Berge geredet, dass es nur so rummst, und selbst die Oma, die sonst nie was sagt und akkustisch niemanden hört, sagt mehr als nur Ja-Ja.

    Gibt’s da auch eine Katze, die Schneewittchen heißt?

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    1. Ich bin nicht sicher, ob die Katzen hier Namen haben. Mein Hund nennt sie alle „Grrr-Wuff“ und bemüht sich, sie zu fressen, aber sonst laufen die so unter „Ferner liefen“.
      Ich bin übrigens sicher, dass es hier auch einen Landfrauenkreis gibt, aber in den illustren Verein bin ich noch nicht aufgenommen worden. Immerhin hab ich schon eine halbe Stunde auf der Straße gestanden und das neuste Gesundheitsbulletin zu hören bekommen von Karl-Wilhelm, und ich weiß jetzt, dass LIeselotte Hunde, aber keine Katzen liebt, und ein Grundstück im nächsten Dorf hat. Ich arbeite mich langsam nach oben…

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      1. Karl-Wilhelm? Ist das der Pfarrer?

        Zum Landfrauenkreis geht man einfach mal so hin. Meistens freuen die sich, wenn jemand Junges dazu kommt. Solange Du aich ein paar „saftige“ Geschichten zu erzählen hast…

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      2. Karl-Wilhelm ist der Mann von der Frau von nebenan, aber der älteren, die oben wohnt, während ihr Sohn unten wohnt, aber der arbeitet ja immer und kann deshalb keinen Hund haben, obwohl er so gerne einen hätte, und sie mochte ja früher keine Hunde, aber dann hatten sie einen und der war so toll und jetzt mag sie auch Hunde. DAS ist Karl-Wilhelm.
        Ich weiß nicht, wie der Pfarrer heißt.
        Wir haben hier keine Kirche, aber ich kann eine Kirche Sonntags hören. Muss mal herausfinden, welche das ist. Ich kenne aber den SPD-Abgeordneten für diesen Landkreis, weil wir Werbung von ihm im Briefkasten hatten; eine Wanderkarte nämlich. Die war toll, aber an den entscheidenden Punkten waren die Bilder der anderen SPDler aufgedruckt, und ich fand es doof, als Wegbeschreibung „Dann gehst du an der Nase von Hans Müller vorbei und in Richtung des Kinns von Gundula Schmitt, aber pass auf, dass du nicht den Hals von Rosemarie Schulze berührst, da ist ein Abgrund“ zu sagen. Er war so lieb und hat mir die PDF-Datei der Wanderkarte OHNE Gesichter geschickt. Ich glaube, ich muss als Dankeschön mal SPD wählen 🙂

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      1. Ach, die Krakenschwester hat mir gut gefallen. Vor einiger Zeit fuhr doch ein Auto vor mir her, das Werbung für häusliche Krakenpflege machte. Ich finde das klasse für die Kraken. Und teuer ist es auch nicht – mein Bruder meinte, die Krakenkasse zahlt das…

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